Als in der Türkei und in Syrien die Erde bebte, war humanitären Akteuren in Deutschland und weltweit klar, dass sie sich wenige Stunden später im Nothilfeeinsatz befinden.
Im Interview spricht Markus Moke, Leiter Projekte und Qualitätssicherung bei Aktion Deutschland Hilft, darüber, welche komplexen Mechanismen im Hintergrund laufen – vom internationalen Hilfeersuchen der betroffenen Staaten bis hin zur Koordinierung der Hilfe.
Aktion Deutschland Hilft: Was waren die Voraussetzungen dafür, dass die Bündnisorganisationen von Aktion Deutschland Hilft in der Türkei und Syrien aktiv wurden?
Markus Moke: Die massiven Zerstörungen durch das verheerende Erdbeben vom 6. Februar 2023 in der Türkei sowie Syrien zeigten sehr schnell, dass internationale Hilfe notwendig sein würde. Beide Länder haben in der Folge ein internationales Hilfeersuchen gestellt – eine Voraussetzung für die Hilfe von Hilfsorganisationen.
Und ebenso wichtig: Es besteht Zugang zu den betroffenen Gebieten – sowohl auf Seiten der Türkei als auch in Syrien. Anfangs war der Zugang zu ländlichen Regionen aufgrund der zerstörten Infrastruktur fast nicht möglich. Inzwischen können auch zerstörte Städte und Gebiete erreicht werden.
Im türkisch-syrischen Grenzgebiet gestaltet sich dies zwar weiterhin schwierig, aber aktuell hat die syrische Regierung weitere humanitäre Korridore geöffnet. Zudem können kommerzielle Übergänge genutzt werden und es besteht die Möglichkeit, Hilfslieferungen aus anderen Nachbarländern, z.B. aus dem Libanon, nach Syrien zu bringen. Trotzdem gibt es noch Herausforderungen. Die Koordination und der Austausch unter den Hilfsorganisationen – wie auch in unserem Bündnis praktiziert – und auch in den UN-Clustern, ist dabei sehr hilfreich, wenn nicht sogar unabdingbar.
Inwiefern spielt das Interesse der Öffentlichkeit eine Rolle?
Unser Bündnis hat eine enorme Solidarität erfahren, die noch immer anhält. Aktion Deutschland Hilft hatte aufgrund der Schwere der Katastrophe selbst zu Beginn eine Million Euro Soforthilfe zur Verfügung gestellt. Doch dank der hohen Spendenbereitschaft können die Bündnisorganisationen seit Tag 1 dringend benötigte Hilfe in angemessener Weise leisten.
Wie sind die Mechanismen für den Einsatzfall: von der Entscheidung bis zum tatsächlichen Inkrafttreten?
Aufgrund des großen Schadenausmaßes, das sich gleich nach dem Erdbeben offenbarte, sprachen sich die Bündnisorganisationen für einen gemeinsamen Einsatzfall aus. Hierbei war der große humanitäre Bedarf, der sogenannte humanitäre Imperativ, entscheidend.
Entsprechend den Regularien hat der Vorstand von Aktion Deutschland Hilft noch am 6. Februar den Einsatzfall ausgerufen. Daraufhin hat die Mehrheit der Mitgliedsorganisationen innerhalb von 48 Stunden ihre Beteiligung in der Nothilfe bestätigt. Im Aktionsbüro von Aktion Deutschland Hilft in Bonn begannen dann verschiedene Maßnahmen in der Projektarbeit:
- Fundraising und Medien-Maßnahmen für die Kampagne
- Telefonkonferenzen in engen Zeitabständen mit den Bündnisorganisationen zur Koordinierung der Hilfe
- Maßnahmen wie die Bedarfsermittlung, die Sondierung lokaler Partner, die Beschaffung von Hilfsgütern und die Vorbereitung von Lieferungen. Außerdem die Entsendung von Emergency-Teams in die betroffenen Gebiete.
Wie verläuft die Koordinierung des Hilfseinsatzes im Aktionsbüro von Aktion Deutschland Hilft sowie mit den Bündnisorganisationen?
Aktion Deutschland Hilft hat einen so genannten Einsatzfallplan. Dieser Plan – im Grunde genommen ein sehr detaillierter Katalog mit Aufgaben und Anweisungen – regelt im Falle eines gemeinsamen Einsatzfalls genau, wer was wann zu tun hat. Damit wird wertvolle Zeit gewonnen und sichergestellt, dass Abläufe koordiniert und effektiv zwischen den einzelnen Fachbereichen und Teams sowie den Bündnisorganisationen erfolgen.
Bei dem aktuellen Einsatzfall gab es beispielsweise in der ersten Woche fast täglich eine kurze Videokonferenz, in der sich die Bündnisorganisationen über die humanitäre Situation vor Ort austauschten.
Hinzu kommen die so genannten Assessments, die die Organisationen vor Ort durchführen. Dabei bewerten sie das Schadensausmaß und die humanitären Bedarfe. Die Informationen teilen die Organisationen miteinander und koordinieren so erste Hilfsmaßnahmen. Ganz konkret bedeutet das: Wer arbeitet vor Ort mit wem zusammen, und in welchen Sektoren? Wer führt Maßnahmen im Bereich Search and Rescue, also der Bergung von Menschen aus Trümmern, durch? Oder welche Bündnispartner arbeiten an gemeinsamen Nothilfemaßnahmen?
Aktuell arbeitet zum Beispiel der ASB mit den Johannitern und arche noVa bei der Trinkwasserversorgung in betroffenen syrischen Gebieten zusammen. Informationen aus diesen Koordinierungstreffen nutzen Kolleginnen und Kollegen im Aktionsbüro auch, um die Öffentlichkeit, Medien und Spender:innen zu informieren.
Wie verläuft die Koordinierung vor Ort?
Wie immer bei Katastrophenfällen sind Hilfsorganisationen auf die Kooperation mit der Regierung angewiesen. Daneben sind in erster Linie die Vereinten Nationen zuständig, die diverse Koordinationszentren eingerichtet haben. Bei der Koordination der Hilfe spielt die türkische Katastrophenschutzbehörde AFAD eine große Rolle, da sie als nationale Koordinationsstelle für die Katastrophenhilfe zuständig ist, unter anderem bei Hilfsgüterlieferungen oder der Einreise internationaler Helfer:innen in die Türkei.
Welche Rolle spielen lokale Organisationen?
Um eine Koordination effektiv umzusetzen, arbeiten unsere Bündnisorganisationen mit lokalen Partnern und Hilfsorganisationen zusammen oder setzen Maßnahmen durch lokale Partner um.
Einige Hilfsorganisationen, wie AWO International, Malteser International, CARE oder World Vision, waren bereits lange vor dem Erdbeben in Syrien und den Nachbarländern in der Nothilfe oder der Flüchtlingshilfe aktiv. Sie haben Strukturen mit lokalem Personal vor Ort und können auf ein großes Netz aus Partnern bauen, die auch jetzt für die Erdbebenhilfe mobilisiert werden konnten.
Welche Hilfsmaßnahmen setzen die Bündnisorganisationen in den zwei betroffenen Staaten um?
Mehrere Bündnisorganisationen sind vor Ort im Einsatz und leisten Soforthilfe. Zum Teil sind sie seit vielen Jahren in der Region aktiv, mit lokalen Partnerorganisationen vernetzt oder verfügen über eigene lokale Büros und Mitarbeiter:innen. Auch Nothilfeteams aus Deutschland sind oder waren bereits im Katastrophengebiet.
Zunächst steht die akute Nothilfe im Vordergrund: Neben Bergungsarbeiten, medizinischer Hilfe und der Verteilung von Nahrungsmitteln, Trinkwasser und Medikamenten werden Notunterkünfte organisiert.
Auf die Räumung folgt der Wiederaufbau: Kann man sagen, wie lange sich der Einsatzfall hinziehen wird?
Aus Erfahrung können wir sagen, dass der Wiederaufbau noch Jahre andauern wird – besonders angesichts des schweren Ausmaßes der Katastrophe in der Türkei und Syrien. Unsere Bündnisorganisationen sind aber auch darauf gut vorbereitet.
Zum Beispiel leistet Habitat for Humanity technische Unterstützung für den erdbebensicheren Wiederaufbau zerstörter Häuser. Help – Hilfe zur Selbsthilfe bereitet sich auf Reparaturmaßnahmen von sozialen Einrichtungen vor.
Syrien befindet sich seit zwölf Jahren im Krieg. Können wir in einem dermaßen von Krisen gebeutelten Land von Wiederaufbau sprechen?
Syrien stellt eine der größten, komplexen Krisen weltweit dar, gekennzeichnet durch einen seit mehr als zehn Jahren andauernden Konflikt. Zu seinen langfristigen Auswirkungen gehören interne und grenzüberschreitende Vertreibungen, Zerstörung ziviler Infrastruktur und Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht. Permanente Häuser oder Infrastrukturen waren bereits vor dem Erdbeben eine große Herausforderung. Das hat sich nach dem Erdbeben noch verschlimmert.
In derartigen Krisensituationen ist es schwierig, generell von Wiederaufbau zu sprechen. Es sind eher vorübergehende Übergangslösungen, die die Lebensgrundlagen der Betroffenen sichern und in den Wiederaufbau einzahlen. Dazu zählen beispielsweise der Wiederaufbau und die Stärkung essenzieller Infrastruktur im Bereich Trinkwasser- und Gesundheitsversorgung, die psychosoziale Unterstützung oder Maßnahmen für besonders vulnerable Gruppen wie Kinder und Frauen.
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