von Aktion Deutschland Hilft
Bei humanitären Notlagen denken viele zunächst an zerstörte Häuser und verletzte Menschen. Weniger sichtbar sind die mentalen Folgen von Krieg und Naturkatastrophen. Dennoch ist psychosoziale Notfallversorgung (PSNV) ein wichtiger Bestandteil der Nothilfe.
Wie sieht das konkret in der Praxis aus? Und welche Rolle spielt lokale Expertise bei der Krisenintervention? Das erfahren Sie im Gespräch mit Gabriela Degen, Fachreferentin für Bildung und Kinderrechte bei unserer Bündnisorganisation World Vision.

Aktion Deutschland Hilft: Obwohl psychosoziale Notfallversorgung ein wichtiger Teil der humanitären Hilfe ist, wird nicht oft über das Thema gesprochen - warum ist das so?
Gabriela Degen: Auf der ganzen Welt, auch in westlichen Kulturen, ist mentale Gesundheit nach wie vor ein Tabu-Thema. Menschen fällt es einfach leichter, über körperliche Gesundheit oder gesunde Ernährung zu sprechen. Das sind Themen, die sehr präsent in unserer Gesellschaft sind.
Im Fall einer Katastrophe ist es ähnlich. Nach dem Ereignis geht es zunächst um die Grundbedürfnisse: medizinische Versorgung, Nahrungsmittel, Trinkwasser und Schutz. Aspekte wie psychosoziale Unterstützung werden erst später berücksichtigt, als wäre es "Luxus".
Ein weiterer Grund liegt im Marketing. Sichtbare Folgen von Katastrophen können in Fotos oder anderen Materialien gut festgehalten werden. Diese Bilder machen direkt deutlich, warum die Menschen Hilfe brauchen und warum Spenden wichtig sind. Traumata oder Belastungen sind natürlich weniger sichtbar. Abgesehen davon hat das Thema psychische Gesundheit oft auch für die Spender:innen noch keine große Priorität.

Hat sich das Bewusstsein da in den vergangenen Jahren geschärft?
Ja, schon. Bei unserer Arbeit bei World Vision sehen wir das Wohlbefinden des Menschen ganzheitlich.
Und wie sieht das aus, wenn PSNV bei Katastrophen zum Einsatz kommt?
Unser Fokus liegt auf psychosozialer Ersthilfe. Wir bilden unsere Helfer:innen durch vollumfängliche Trainings oder Auffrischungstrainings aus. Dazu gehören Themen wie Kinderschutz. Wir haben aber auch Workshop-Angebote für Eltern.
Da geht es zum Beispiel um positive Coping-Mechanismen in Notfällen. In Krisensituationen verändern Menschen häufig ihre Verhaltensweisen, um mit Stress, Verlusten oder Bedrohungen umgehen zu können. Positive Coping-Strategien helfen dabei, gesundheitsfördernde Gewohnheiten im Krisenfall zu etablieren und langfristig die Widerstandsfähigkeit zu stärken. (Anmerkung der Redaktion: "Coping-Mechanismus" (oder auch "Coping-Strategie") ist ein Begriff aus der Psychologie, der sich auf die Änderung von Verhaltens- oder Denkmustern in belastenden Situationen bezieht. Menschen nutzen solche Strategien bewusst oder unbewusst, um mit Stress, Problemen oder Veränderungen umzugehen.)
Wichtig sind auch altersgerechte Maßnahmen. Für Kinder unter 10 Jahren kann es sinnvoll sein, Aktivitäten mit den Eltern zusammen zu gestalten. Oft geht es da um kreative Angebote wie Kunst. So können Kinder bestimmte Erfahrungen oder ihr Befinden äußern, ohne dass dabei ein neues Trauma ausgelöst wird.
Zuletzt waren wir nach den schweren Erdbeben in Myanmar mit diesem Kinderschutzprogramm im Einsatz. Auch in langjährigen Krisen sind wir aktiv, ein Beispiel sind die vertriebenen Rohingya in Bangladesch.

Was braucht es, damit auch die mentale Gesundheit innerhalb der Hilfsteams nicht zu kurz kommt?
Das ist ein sehr wichtiger Aspekt. Bei World Vision haben wir unsere Maßnahmen im Bereich PSNV inzwischen erweitert und legen großen Wert auf die Selbstfürsorge unserer Mitarbeitenden. Dazu bieten wir Schulungen an, in denen wir vermitteln, wie man gut auf sich selbst achtet.
Wir arbeiten nach den Prinzipien Supervision und Peer-to-Peer-Support: Das bedeutet, dass unsere Mitarbeitenden regelmäßig die Möglichkeit haben, sich mit Kolleg:innen und sozialen Fachkräften auszutauschen. Der Austausch von Erfahrungen kann bei der Verarbeitung von Krisen und schwierigen Lebenssituationen helfen.
Und wie bereitet World Vision das Einsatzteam auf den Umgang mit traumatisierten Menschen vor?
Hier ist die Vernetzung vor Ort ein ganz wichtiger Faktor. Wir arbeiten eng mit den lokalen Kliniken, Krankenhäusern und Psycholog:innen zusammen, denn es gibt meistens bereits funktionierende Strukturen.
Für uns ist wichtig, keine Abhängigkeiten in den Gemeinden zu etablieren, daher sehen wir uns als internationale Hilfsorganisation bei Hilfseinsätzen eher in einer Vermittlerrolle zwischen Betroffenen der Katastrophe und den vorhandenen Expert:innen.
Beim Kontakt mit Betroffenen ist unser Ansatz zu psychosozialer Ersthilfe die Basis. Wir achten darauf, wie wir zuhören und reagieren. Wir gehen nicht einfach auf Menschen zu, um auf mögliche Anzeichen eines Traumas hinzuweisen. Wichtig ist es stattdessen, Bewusstsein zu schaffen. Wir machen den Menschen vor Ort bewusst: Wenn du mehr Informationen zu einem bestimmten Thema brauchst, können wir Ansprechpersonen vermitteln.
Also gibt es viele Stellen, an denen geschulte Helfer:innen im Bereich PSNV mit anpacken können. Aber wo ist medizinisches Fachpersonal erforderlich?
Idealerweise ist medizinisches Fachpersonal entlang aller Aktivitäten in der sogenannten Interventionspyramide integriert. Je mehr Bewusstsein da ist, desto besser kann mit Traumata umgegangen werden. Wirklich unabdingbar wird es ganz oben in der vierten Ebene – wo es dann wirklich um spezialisierte Hilfe geht und um Krankheitsbilder wie Depression und Traumata.

Was ist bei psychosozialer Versorgung speziell für Kinder wichtig? Wie unterscheidet sich der Ansatz von dem für Erwachsene?
Das Gehirn eines Kindes ist anders gebildet: Es reagiert auf Erlebnisse vor allem mit Emotionen, weil die Worte für die Erfahrungen noch fehlen. Ältere Kinder können das, was in ihnen vorgeht, besser erklären. Dann sind auch andere Therapieformen möglich.
In allen Hilfsprojekten von World Vision sind kindgerechte Räume integriert. In den ersten 90 Tagen geht es uns darum, einen Raum zu kreieren, wo Kinder aller Altersgruppen hinkommen können. Da passiert dann ein Erstscreening in Hinblick auf die Sicherheit sowie die körperliche und mentale Gesundheit der Kinder.
Es gibt immer mehr Krisen weltweit. Mit einem Blick auf die nächsten 5 Jahre – was wird im Bereich PSNV besonders wichtig sein?
Je mehr lokale Programme langfristig verankert werden, umso mehr bedarf es lokaler Kapazitäten und Schulungen, etwa für Lehrer:innen und Gesundheitskräfte vor Ort.
Menschen können ab einem bestimmten Stresslevel keine neuen Fähigkeiten mehr aufnehmen. Das zeigt, dass mentale Gesundheit mit vielen Aspekten verknüpft ist und im Katastrophenfall von Anfang an ganzheitlich mitgedacht werden sollte.
World Vision ist eine von mehr als 20 Hilfsorganisationen in unserem Bündnis Aktion Deutschland Hilft. Gemeinsam leisten wir Menschen in Not weltweit humanitäre Hilfe. Danke für Ihre Spende.
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