Wie sieht erdbebensicheres Bauen konkret aus? Warum wird Vorsorge oft vernachlässigt, obwohl die Risiken bekannt sind? Im Interview gibt Gereon Fischer, hauptamtlicher Vorstand von Habitat for Humanity, Antworten.
Die Bündnisorganisation von Aktion Deutschland Hilft engagiert sich in 70 Ländern weltweit – mit Projekten zu Hausbau, Renovierung, Katastrophenvorsorge und Katastrophenhilfe.
Aktion Deutschland Hilft: Wie kommt es, dass in manchen Ländern nicht ausreichend Vorsorge gegen Erdbeben geleistet wird, obwohl das Risiko bekannt ist?
Gereon Fischer: Es fehlt in erster Linie häufig am allgemeinen Bewusstsein dafür. Gerade wenn, wie in der Türkei, das letzte Erdbeben Jahrzehnte her ist, wird das Problem in den Köpfen der Menschen zunehmend abstrakt. Und nach einer Katastrophe heißt es dann oft: Durch das Erdbeben starben Tausende oder Zigtausende Menschen. In Wirklichkeit sterben die Menschen aber nicht durch das Beben, sondern vor allem durch einstürzende Gebäude, die nicht erdbebensicher sind.
Ein weiteres Problem sind schwache Institutionen, die zu wenig Wissen und Personal haben, um vorhandene Gesetze durchzusetzen. Und dann gibt es noch politische Interessen, die bewirken, dass beispielsweise an einer Stelle gebaut wird, die nicht erdbebensicher ist, oder dass bei Verstößen gegen Baurecht beide Augen zugedrückt werden. In der Türkei beispielsweise hat der Staat ja eigentlich nach dem großen Erdbeben von 1999 durchaus vorbildliche Gesetze erlassen, es dann allerdings versäumt, die Maßnahmen konsequent umzusetzen.
Auch das schrittweise Bauen in vielen Regionen ist ein Risikofaktor: Erst wird ein Stockwerk gebaut, nach drei Jahren, wenn wieder Geld da ist, folgt das zweite Stockwerk, nach einem weiteren Jahr das dritte. Womöglich sind beim dritten Stockwerk schon ganz andere Personen involviert, die keine Ahnung haben, was wo im ersten Stockwerk verbaut wurde, was unter dem Putz ist und wo beispielsweise die Stahlträger verlaufen. Auch Kontrollen sind bei solchen Bauten aufwändig.
Diese ganze Gemengelage wird dazu führen, dass das Sendai-Rahmenwerk, das 2015 auf der 3. Weltkonferenz der Vereinten Nationen über die Verringerung des Katastrophenrisikos einen klaren Handlungsrahmen gesetzt hat, seine Ziele bis 2030 sicher nicht erreichen wird.
Erdbebensicheres Bauen ist oftmals teurer. Ist das eines der Hauptprobleme?
Ja und nein.
Ein Land wie die Türkei kann sich erdbebensicheres Bauen ja eigentlich leisten. Aber höhere Kosten für eine erdbebensichere Bauweise in Kauf zu nehmen bei einem abstrakten Risiko, das zu diesem Zeitpunkt nicht sichtbar und spürbar ist, das ist immer schwer. Ärmere Länder brauchen sicher finanzielle Unterstützung aus Geldern der Entwicklungszusammenarbeit. Denn grundsätzlich ist es ja so, dass Katastrophen die Ärmsten, die am wenigsten über Geld und Wissen verfügen, am schwersten treffen.
Dabei ist es natürlich falsch, nur das Geld zu sehen, das anfangs in erdbebensicheres Bauen investiert wird. Denn jeder Dollar, den man in Katastrophenvorsorge investiert, spart ein Vielfaches, wenn eine Katastrophe eintritt. Außerdem muss erdbebensicheres Bauen nicht zwangsläufig teuer sein.
Das führt zu der Frage: Was bedeutet erdbebensicheres Bauen konkret? Welche Materialien und Techniken kommen dafür zum Einsatz?
Das Baumaterial braucht eine enorme Festigkeit, um den gewaltigen Kräften bei einem Erdbeben standzuhalten. Es muss zugleich flexibel sein, um die Bewegungen des Gebäudes während des Bebens mitzumachen und nicht wie ein Kartenhaus einzustürzen.
Das Flaggschiff von Habitat ist die Bambus-Bauweise. Bambus wächst schnell und ist sehr kostengünstig. Es hat eine hohe Festigkeit und ist gleichzeitig flexibel. Und falls das Gebäude doch einstürzt, ist Bambus leicht, die Bewohner werden nicht unter tonnenschwerem Mauerwerk beerdigt. Habitat hat ein System entwickelt, wie Bambus fest verbunden werden kann, sodass es Erdbeben, Taifunen etc. standhält. Wir bilden auch Handwerker für diese Bauweise aus und setzen das Verfahren unter anderem in Nepal und auf den Philippinen ein.
Auch Holz ist ein hervorragender Baustoff. In Nepal beispielsweise haben wir mit einer Art Fachwerk gute Erfahrungen gemacht: In eine Struktur aus Holzbalken kommt ein Geflecht aus Bambus. Den Bambus dafür bauen Angehörige einer marginalisierten Kaste an und verkaufen ihn als Baumaterial. Das sichert ihr Einkommen.
Bei Hochhäusern in den Städten sieht es etwas anders aus. Wenn Beton verbaut wird, ist wichtig, dass nicht am Stahl gespart wird. Stahl ist aber teuer. Eine Möglichkeit bei mehrstöckigen Gebäuden ist, gezielt Sollbruchstellen einzubauen. Heißt: An geplanten Stellen dürfen Brüche entstehen – das gibt dem Gebäude Raum, sich bei einem Beben auseinanderzubewegen, ohne auseinanderzubrechen.
Wie gut kann man bestehende Gebäude nachrüsten?
Das ist bis zu einem bestimmten Grad möglich, ist aber schwieriger als neu zu bauen. In Zentralasien zum Beispiel rüsten wir bestehende Lehmhäuser recht preiswert nach, indem wir Holzträger und Holzstreben in Ecken und Wände einziehen, um ihre Tragfähigkeit zu stärken. Unter die Decken bauen wir Holzbalken.
Erdbeben-Vorsorge beschränkt sich jedoch nicht nur aufs Bauen?
Richtig. Es geht zunächst um prevention. Prävention heißt zum Beispiel: gar nicht erst dort zu bauen, wo es gefährlich werden könnte. Dann geht es um resistance, also um katastrophensichere Bauweise. Und schließlich geht es um preparedness: Die Menschen müssen wissen, was im Fall der Fälle zu tun ist.
In Japan weiß das jeder. Also beispielsweise: Wenn man sich in den eigenen vier Wänden aufhält, sofort ins Freie rennen, wenn möglich. Wenn nicht: sich in den Türrahmen stellen oder in eine andere starke Struktur. Eine Notfalltasche immer griffbereit halten. Und: die Evakuierungsorte kennen, um die sich die öffentliche Hand natürlich rechtzeitig gekümmert haben muss. Wichtig ist auch, dass in jeder Stadtplanung, bei jeder Baugesetzgebung Katastrophenvorsorge mitgedacht wird. Habitat hat beispielsweise in Tadschikistan erfolgreich daran mitgewirkt, dass Holzbauweise in die Gesetzgebung aufgenommen wurde.
Habitat bietet weltweit auch so genannte PASSA-Trainings an. PASSA steht für Participatory Approach for Safe Shelter Awareness. In diesen Workshops erarbeiten wir gemeinsam mit den Menschen vor Ort, welche lokalen Risiken es gibt und welche Maßnahmen daraus abzuleiten sind.
Leider ist es so, dass Spendengelder nach großen Katastrophen quasi von alleine fließen, es aber viel schwerer ist, Gelder für Katastrophenvorsorge zu mobilisieren. Das Thema ist abstrakt und weniger emotional, aber wahnsinnig wichtig.
Wie geht Habitat vor, wenn eine Katastrophe eingetreten ist?
Wir denken mittel- und langfristig. Denn unmittelbar nach einer Katastrophe sind Hunderte Hilfsorganisationen vor Ort. Uns ist aber der Übergang zu einem nachhaltigen Wiederaufbau wichtig.
Habitat geht meist in drei Schritten vor. Unmittelbar nach einer Katastrophe verteilen wir shelter kits mit Planen und Werkzeug (Schrauben, Nägel) für die Reparatur von Häusern, die beschädigt, aber nicht zerstört sind. Auch Schadensbegutachtungen fallen häufig in diese Phase. Denn für die Menschen vor Ort ist es wichtig, wenn möglich nicht unzählige Kilometer vom Wohnort entfernt in ein Zelt gesteckt zu werden. In einem zweiten Schritt stellen wir schnell aufbaubare Wellblech- oder Holzhütten für den Übergang auf. Und schließlich unterstützen wir nachhaltigen Wiederaufbau. Dabei gilt das Prinzip: "build back better".
In welchen Zeitdimensionen denken Sie da?
Wenn ein Erdbeben die Dimensionen wie in der Türkei und Syrien hat, denken wir in einem Zeitrahmen von drei bis zehn Jahren. Die Ankündigung der Regierung Erdogan, in einem Jahr würden die Menschen in neuen, sicheren Häusern wohnen, ist aus unserer Sicht leider schlicht unrealistisch.
Habitat for Humanity ist eine der Hilfsorganisationen im Bündnis Aktion Deutschland Hilft, die nach der Erdbeben-Katastrophe in der Türkei und Syrien humanitäre Hilfe leisten.
+++ Spendenaufruf +++
Aktion Deutschland Hilft, Bündnis der Hilfsorganisationen,
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