von Aktion Deutschland Hilft
Asuntha Charles, Länderdirektorin bei World Vision Afghanistan, sorgt sich um die Zukunft der Frauen und Kinder in Afghanistan. Unter schwierigen Bedingungen bleibt sie im Land aktiv und erlebt auch Momente der Hoffnung.
Aktion Deutschland Hilft: Sie sind Länderdirektorin von World Vision in Afghanistan. Frau Charles, was sind aktuell die größten Herausforderungen?
Asuntha Charles: Die ersten Tage nach der Machtübernahme der Taliban waren von Angst geprägt. Wir wussten nicht, wie es weitergeht oder wie sich Behörden gegenüber Hilfsorganisationen verhalten würden. Doch wir haben beschlossen, vor Ort zu bleiben.
In den nordwestlichen Regionen Afghanistans haben wir unsere Arbeit schnell wiederaufgenommen. Damals wie heute stoßen weibliche Mitarbeiterinnen auf Schwierigkeiten. Und wir müssen den Machthabenden oft erklären, warum wir hier arbeiten und wofür unsere Hilfsprogramme sind.
Das ist nicht immer einfach, doch wir sind in der Lage, weiterzuarbeiten. Das Ausmaß der humanitären Katastrophe zeigt, dass wir Afghanistan nicht im Stich lassen können. Diese Erkenntnis gibt uns die Kraft, weiterzumachen.
Was hat sich für Sie als weibliche Mitarbeiterin von World Vision verändert?
Meine nationalen Kolleginnen haben die größten Schwierigkeiten. So muss jede afghanische weibliche Mitarbeiterin von einem Mann begleitet werden: bei Projektbesuchen und in den Büros. Ich als ausländische Mitarbeiterin kann das weiterhin ohne Einschränkungen alleine tun.
Wir müssen dringend die Rechte der afghanischen Kolleginnen stärken – auch, damit sie die Freiheit haben, eine gute Ausbildung zu machen und zu arbeiten.
Ende September 2001 waren die ersten US-Truppen im Norden Afghanistans gelandet. Seitdem kämpfte eine US-geführte Militärallianz gegen die Taliban und terroristische Gruppen. Auch die Bundeswehr war im Einsatz. Auf dem Höhepunkt des Krieges waren bis zu 100.000 US-Soldaten und fast 40.000 Nato-Soldaten im Einsatz. Tausende sind gefallen.
Die USA hatten das Terrornetzwerk al-Kaida für die Anschläge vom 11. September 2001 verantwortlich gemacht, dessen Anführer sich danach in Afghanistan versteckt hielt. Die Taliban hatten ihm und seiner Organisation Schutz gewährt.
Nach ihrem 20-jährigen Einsatz sind die internationalen Truppen aus Afghanistan abgezogen – und die Taliban haben das Land 2021 binnen weniger Tage zurückerobert.
Seit dem Regierungswechsel fürchten Millionen Menschen um ihre Zukunft. Die humanitäre und die wirtschaftliche Lage in Afghanistan haben sich zusehends verschlechtert.
Die etablierten Rechte für Mädchen und Frauen werden stark beschnitten – etwa mit den Ausschluss aus Schulen, vom Arbeitsmarkt und von medizinischen Behandlungen. Tausende Menschen haben seit der Machtergreifung der Taliban versucht, das Land zu verlassen.
Die Taliban sind eine radikalislamistische militärische Bewegung. In Afghanistan wollen sie eigenen Aussagen zufolge eine Herrschaft nach Scharia-Recht aufbauen.
Die Scharia ist ein islamisches Rechtssystem. Sie stellt kein eigenes Gesetzeswerk dar, sondern setzt sich zusammen aus dem Koran, islamischen Überlieferungen und Auslegungen von Theologen und Juristen vor allem der frühislamischen Zeit. Zur Scharia gehören auch sogenannte Körperstrafen wie Handamputationen und Steinigungen.
Zwischen 1966 und 2001 kontrollierten die Taliban das Land weitgehend. Während dieser Zeit durften Frauen nicht ohne Burka und männliche Begleitung auf die Straße und Mädchen nicht zur Schule gehen. Mit der US-geführten Mission "Enduring Freedom" wurden die Taliban gestürzt. Seit August 2021 regieren sie das Land wieder.
Was brauchen die Menschen gerade am dringendsten?
Als ich im Oktober Projekte besucht habe, habe ich viel Leid gesehen. Die Vereinten Nationen schätzen, dass etwa eine Million Kinder vom Hungertod bedroht sind. Medizinische Behandlungen sind kaum verfügbar. In unseren wenigen Kliniken kümmern wir uns um besonders vulnerable Gruppen wie Frauen und Kinder, die wegen starker Unterernährung behandelt werden. Doch das ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.
Ebenso groß ist der Bedarf an Trinkwasser und Lebensmitteln. Seit August 2021 haben mehr als eine halbe Million Menschen ihre Jobs verloren. Das hat zur Folge, dass sich nun auch die bisherige Mittelklasse nicht mehr hinreichend zu Essen leisten kann. Schwere Dürren führen dazu, dass die meisten sich nicht mehr selbst versorgen können. Wir haben mit Eltern gesprochen, die ihre eigenen Kinder verkauft haben, damit der Rest der Familie überleben kann.
Wie könnte sich die humanitäre Lage in den kommenden Jahren entwickeln?
Etwa 24 Millionen Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Das ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung – 2020 waren es noch 18 Millionen Menschen. Das zeigt das schwere Ausmaß der Krise in Afghanistan.
Wir dürfen nicht nur auf akute Nöte schauen, sondern müssen auch langfristige Hilfe leisten, damit die Menschen sich wieder selbst versorgen können. Wenn wir nicht jetzt handeln, wird das Land immer wieder unter Katastrophen wie dieser leiden.
Was gibt Ihnen Hoffnung, dass sich die Bedingungen im Land wieder zum Guten verändern können?
Als ich unsere mobilen Kliniken in einigen Gemeinden besucht habe, brachte eine Mutter ihr schwerkrankes Kind zu mir. Nun geht es ihm besser. Wenn ich das Lächeln dieses Kindes sehe, habe ich das Gefühl, dass wir doch etwas Hoffnung für dieses Land haben.
Auch wenn es nur ein kleines Zeichen ist: Es gibt es mir Kraft, zu wissen, dass World Vision als Kinderschutzorganisation etwas bewirken kann. Wir können die Kinder nicht ihrem Schicksal überlassen. Wir müssen weiter kämpfen und den Menschen weltweit erklären, dass Afghanistan Ihre Hilfe braucht.
Asuntha Charles ist seit zwei Jahren Länderdirektorin Afghanistan bei World Vision. Sie lebt seit 7 Jahren in dem Land. Zuvor arbeitete sie als Direktorin bei Actionaid Afghanistan. World Vision, Bündnisorganisation von Aktion Deutschland Hilft, ist seit 21 Jahren in Afghanistan aktiv.
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