„Frederik Eltings Fabel lässt sich mühelos auf das eigene Leben übertragen. Rabe, Kaninchen und Forelle zeigen uns auf, dass den eigenen Möglichkeiten zwar Grenzen gesetzt sind, man diese Grenzen aber gemeinsam überwinden kann. Die Geschichte weckt Emotionen und gleicht spielerisch soziale und kulturelle Unterschiede aus.“
Grenzenlos | von Frederik Elting
Das Kaninchen mümmelte auf dem letzten Rest eines Löwenzahns und fühlte sich gesättigt. Das Licht, das seine Heimat durchschien, wärmte noch sein Fell, auch wenn die Schatten der Gräser, Büsche und Bäume schon länger wurden. „Ich werde langsam losspringen müssen, wenn ich pünktlich sein will. Der Rabe versteht so wenig Saß. Immer will er pünktlich sein und erwartet das auch von anderen“, dachte es sich. Das Kaninchen selbst war von anderer Natur. Es lebte in der Art, wie es durch den Wald und über die Wiesen lief. Oft rannte es, Haken schlagend, wild durch die Natur, nur um im nächsten Moment an einem Ort, der ihm interessant erschien, hocken zu bleiben, mal hier, mal dort zu schnuppern und das Leben zu genießen. „Und dann Freund Forelle! Oft ist es für ihn anstrengend, seinen Kopf in die Luft zu erheben, um an unseren Treffen teilzuhaben. So will ich mich besser sputen!“
Das abendliche Licht am alten Weiher im Wald wurde bereits rötlich, als sich Rabe, Kaninchen und Forelle am Ufer trafen. Dies taten sie oft, denn sie waren Freunde und obschon sie recht unterschiedlich waren, stritten sie selten. Und so füllte sie ein warmes gutes Gefühl, wenn sie sich nach ihren Zusammenkünften zur Nachtruhe begaben.
„Sieh an!“, krächzte der Rabe. „Hoher Besuch kündigt sich an. Das Kaninchen ist auch schon da.“ Der Rabe war oft etwas neckend, gerade dann, wenn andere lebten, wie er es sich für sein Leben nicht vorstellen konnte. Stets versuchte er, schlau und schnell an das Ziel zu kommen. Doch verletzend war sein Spott nie. „Lass ihn, Freund Rabe!“, warf die Forelle ein. „Er ist jung und kennt den Wert der Zeit nicht, wie ein alter Rabe wie du es tut. Trotzdem nutzt er sein Leben, wenn auch anders als du.“ „Ich danke euch, Freund Forelle. Oft scheint das Gemüt des Raben düster wie sein Kleid“, feixte das Kaninchen.
So hatten die Drei Spaß miteinander und Freude an den Anderen. Das Kaninchen berichtete vom Zauber des Waldes, von den Blüten und dem Geschmack des Grases. Seine Berichte vom Inneren der Erde und der Dunkelheit der Höhlen versetzte seine Freunde immer wieder in Erstaunen und das Kaninchen freute sich, im Mittelpunkt stehen zu können. Der Rabe erzählte von seinen Flügen, dem manchmal kräftigen, manchmal sanft kühlenden Wind und dem weiten Blick von Horizont zu Horizont. Wenn er seinen Freunden Dinge nahebringen konnte, die diese noch nicht kannten, war er sehr stolz. Die Forelle konnte von den Tiefen des Sees sprechen. Den Wundern der Tiefe und verborgenen Geheimnissen. Dann glitzerten die Augen seiner Freunde wie die Oberfläche des Sees in der Sonne.
Oft endeten ihre Treffen vor Einbruch der Dunkelheit, ihnen allen behagte der Tag mehr als die Nacht.Doch diesmal war es anders und alle sollten später Ruhe finden und noch länger ihren Gedanken nachhängen.
„Wie klein und beschränkt wir doch sind!“, rief das Kaninchen aus. „Jeder von uns lebt in einem Reich, welches uns eine Vielfalt an bemerkenswerten Dingen schenkt. Und lange war ich glücklich und zufrieden. Doch wenn ihr mir zeigt, welche Grenzen ich habe, dann wird mein Herz schwer. Warum kann ich nicht fliegen wie der Rabe oder tauchen wie die Forelle? Welche Wunder werden meine Augen niemals sehen!“, grämte es sich. „Du hast schon recht“, bemerkte die Forelle. „Wie gern könnte ich Luft atmen! Wie gern hätte ich Beine, die mich aus dem Weiher tragen würden, damit ich das Gras und die Baumrinde spüren könnte, die ich heute nur sehen kann.“
Der Rabe sagte lange nichts. Er rutschte unbehaglich auf dem Zweig hin und her, auf dem er sich niedergelassen hatte. Er gefiel sich als weiser Ratgeber. Er war der Älteste und war weit umher gereist. Er hätte gern sofort das Jammern seiner Freunde unterbrochen, etwas Schlaues gesagt und alle zufrieden gemacht. Aber ja, das Kaninchen hatte schon etwas Wahres gesagt. Ein jeder von ihnen war auf seine Art eingeschränkt. Er wusste, dass er als ruhiges Wesen wahrgenommen wurde, welches sich stets im Griff hatte. Aber tief in seinem Inneren fand er es ebenfalls ungerecht und fluchte auf diese Grenzen. Seine Freunde sprachen unter ihm laut und aufgeregt weiter, aber er versenkte sich ganz in seine Gedanken. Warum gab es Grenzen? Sie schienen ihm einschränkend und willkürlich, schränkten ein, stahlen Erfahrungen. Er hatte immer nur erlebt, das Grenzen da aufgebaut wurden, wo Angst war.Wer baute Grenzen? Jemand, der nicht teilen wollte. Der soweit ging, andere so hart abzuwehren, dass die, die anders waren, Schaden nahmen. Jemand, der unter sich sein wollte. Allein. Vielleicht sogar einsam. Jemand, der sich wichtiger nahm, als die anderen.
All dies passte doch nicht zu ihnen! Sie trafen sich, um genau das nicht zu sein! Sie wollten teilen und empfangen. Sie hatten keine Angst voreinander, sie hatten Angst ohneeinander. „Freunde, beruhigt euch bitte!“, rief der Rabe aus und blickte seine Kameraden liebevoll an. „Es ist wahr. Ich würde auch gern unter den Wellen dahinfliegen oder erleben, wie es ist, wenn Erde nicht nur unter den Krallen, sondern auch über dem Kopf ist. Warum kann ich kein Wasser atmen wie du, Freund Forelle? Warum nicht graben wie du, Freund Kaninchen? Ich weiß es nicht.“ Er ließ diese Erkenntnis auf seine Freunde wirken. So oft hatten sie von ihm eine Lösung erfahren. Die Forelle und das Kaninchen schauten unbehaglich. „Ein wenig weiß ich jedoch. Dies ist keine Antwort auf unsere Frage. Aber vielleicht müssen manche Fragen nicht beantwortet werden. Wir haben Grenzen doch längst überwunden!“ Überrascht schauten ihn alle mit großen Augen an.
„Wir drei unterscheiden uns wie Gras vom Baum, wie Wasser vom Sand oder die Sonne vom Mond. Unsere Körper sind verschieden, aber auch unser Geist. Unsere Erinnerungen wurden durch unser Leben gemacht und sie könnten nicht unterschiedlicher sein.“ Er holte tief Luft und blickte zufrieden.
„Aber Freunde... Wir haben uns gefunden. Wir treffen uns und teilen Erlebnisse. Wir haben die Angst besiegt und haben neue Welten gewonnen. Dank dir, Freund Forelle, kann ich die Welt unter Wasser erleben. Dank dir, Freund Kaninchen, kann ich Wiese und Wald mit anderen, jungen Augen sehen.Und ich kann euch Orte zeigen, die ihr nie erreichen könntet. Wie arm wäre ich, wenn Raben mir ihr Leben berichteten? Dies Leben ist mir bekannt, ich lebe es selbst. Ich hörte immer das Gleiche und irgendwann würde die Rabenwelt mein Leben erfüllen und alles andere ersticken. Neues wäre falsch. Sähe ich Neues, müsste ich Grenzen errichten. Mein Geist wäre erstickt.“
Die drei Freunde sahen sich an und dachten über das nach, was der Rabe gesagt hatte. Nach einiger Zeit begannen sie, sich anzulächeln. Nach diesem Tag trafen sie sich noch viel lieber, denn jeder gab sich viel mehr Mühe als zuvor, seine Freunde in seine Welt zu entführen.
Frederik Eltings "Grenzenlos" vorgetragen von Volker Groß (Radio Bonn Rhein-Sieg):
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