Donnerstag, 24. August 2006:
Sogar auf den kargen Höhen des libanesischen Gebirges entkommen wir nicht der Erinnerung an den Krieg: Sogar hier hat die Hisbollah zwischen Jeans-Werbung mit Schönheiten in Spitzen-BHs ihre Propagandaplakate aufgestellt. Wir sind auf dem Weg ins Bekaa-Tal, dem dritten Kriegsschauplatz neben dem Südlibanon und den Vororten Beiruts. Hinter uns der weite Blick auf die Hauptstadt und das Mittelmeer, gleich hinter dem Pass öffnet sich der Blick auf ein breites braun-grünes Tal. Schon vor zweitausend Jahren war es eine wichtige Verbindungsroute zwischen Kleinasien und Palästina. Davon zeugen noch heute römische Säulen, die wir zwischen den Feldern entdecken, auf denen Zigeuner als Saisonarbeiter Kartoffeln ernten.
Im Gesundheitszentrum von Barka begrüßt uns das Team mit einem fröhlichen traditionellen Tanz, zu dem ein Arzt auf einer Art Laute mit zehn Saiten spielt. Schwester Marie empfängt uns mit einem Schwall an Geschichten. Während des Krieges flüchteten die Schiiten aus dem Tal ins Vorgebirge um Barka und liefen den Ärzten und Schwestern die Türen ein: „Anfangs sind über hundert am Tag gekommen, am Ende waren es insgesamt über 1.000. Von allem gab es zu wenig: Wir mussten die Medizin strecken und Pillen rationieren.“ Ein junger Mann hatte eine schlimme Infektion, brauchte dringend Medizin, die normalerweise 400 Euro kostet. Schwester Marie gab sie für einen symbolischen Preis: „Da hat die Mutter den Betonboden vor unserem Zentrum geküsst und gerufen: `Ich danke Allah für dieses Haus!`“
Wir helfen, die dringend benötigte Medizin auszuladen. Auf der Terrasse schleudern die Krankenschwestern derweil Brotfladen und backen sie auf einem halbrunden Ofen mit Sesamkernen und Öl. Viel Obst und Gemüse bauen die Schwestern selbst an – die eingemachte Marmelade schmeckt vorzüglich. Schwester Marie erzählt von der Angst der Menschen vor neuen Kämpfen. Nichts an ihr verrät, dass sie selbst schwer krank ist.
Weiter unten in Bechouat sind die Bildnisse islamischer Geistlicher, die in allen schiitischen Ansiedlungen hängen, plötzlich gegen Darstellungen der Jungfrau Maria eingetauscht. „Das hier ist das Lourdes des Libanon“, erklärt unser Fahrer, berichtet von Wunderheilungen und macht sich zu der schlichten maronitischen Kirche auf, in der an diesem Morgen eine Handvoll Gläubige beten. Auch Schiiten pilgern hierher, auch sie verehren Maria als Jungfrau. Vor der Kirche steht ein Rollstuhl, als ob ihn soeben jemand zurückgelassen hätte. Die Andenkenläden sehen genauso aus wie in Altötting.
In Kefraya, einem Ort am südlichen Ausgang des Tals, der weltweit für seinen Wein bekannt ist, hören wir dieselben Geschichten wie in Barka. Die Flüchtlinge sind auch hierher gekommen, für die Visiten in den Dörfern waren auch hier Benzin und Medikamente knapp, und nur wenige hundert Meter entfernt wurde ein Konvoi aus der Luft beschossen. „Die Explosionen, die Flieger, die Schreie der Frauen“, erinnert sich Schwester Gilberte sichtlich aufgewühlt: „Man funktioniert, aber irgendwann kann man nicht mehr.“
Die Apothekerin erzählt, dass in der Region um Kefraya alle großen Volksgruppen des Libanon beieinander wohnen: Christen, Sunniten, Schiiten, Drusen. „Wir wussten gar nicht mehr, wer zu wem gehört“, sagt sie: „Erst der Krieg hat diese Trennung geschaffen.“ Und: „Wir brauchen Frieden.“
Wenig später im Schufra-Gebirge zeigt die Uhr unseres Fotografen aus London eine Höhe von 6.300 feet über dem Meeresspiegel an – mehr als 2.000 Meter. Morgen werden wir noch zweimal über das Gebirge fliegen – nach Amman in Jordanien und zurück nach Europa. Wir sitzen auf einer Holzbank, vor uns der majestätische Ausblick auf den Küstenstreifen im Westen, in der Luft der Duft der Pinien und ein leichter Wind, der durch die uralten Zedern streicht. Es ist sehr schön hier. Und friedlich.
Am Morgen ist der Libanon ein Garten Eden. Rechts reicht bis zum Horizont das Mittelmeer, links geht über den Bergen die Sonne auf. Längs der Küstenstraße in den Südlibanon wachsen Orangenbäume, Bananenstauden, Dattelpalmen, Melonen, Eukalyptusbäume. Nur alle paar Kilometer zerstört eine zerbombte Brücke über der Autobahn das Bild.
Nach zwei Stunden passieren wir den Litani-Fluss, vergleichsweise ein kleines Rinnsal, der die Grenze zu der Kampfzone im Süden markiert. Ein Hund, der mitten auf der Straße liegt, bleibt aber vorerst das Gefährlichste auf dieser Reise. Aber das kann uns auch nicht mehr schocken, nachdem uns vorher schon jemand auf der linken Spur der Autobahn entgegengekommen ist. „Das gibt es hier manchmal“, hat der Fahrer gesagt.
Vormittags ist der Libanon ein Trümmerfeld. In Siddikine, einem Dorf nahe der biblischen Stadt Kana, liegt der gesamte Ortskern in Schutt und Asche. Schon auf dem Weg dorthin durch das Hügelland haben wir immer mal wieder einzelne zerschossene Häuser und Tankstellen gesehen, aber hier ist zum ersten Mal eine ganze Fläche zerbombt. Auch hier hat die Hisbollah ein Plakat aufgestellt: „Das ist Eure Demokratie“.
Das Gesundheitszentrum der Malteser hat die Angriffe überlebt, nur die Fenster sind alle geborsten. Auch das Team ist wieder komplett in das verlassene Dorf zurückgekehrt. Wir laden Medikamente aus und fahren weiter nach Süden.
„Die Lage war schlimm“, erzählt Doktor Raed el-Amal. 8.000 Christen hatten in seinem Heimatdorf mehr als 20.000 schiitische Flüchtlinge aufgenommen, bevor sie von den Kämpfen dort eingeschlossen wurden: „Es gab nicht genug Platz. In manchen Häusern haben 100 Flüchtlinge übernachtet.“ Zudem fehlte es an allem: Wasser, Brot, Babymilch, Medikamente. El-Amal selbst hat tagelang von ein paar Litern Regenwasser gelebt, die er durch einen Filter laufen ließ. Viele andere haben Wasser aus dem See genommen und sind krank geworden. Zehn Fälle von Hepatitis A hat der Doktor festgestellt; fünf Menschen sind an Krankheiten gestorben, die bei rechtzeitiger Behandlung in einem Krankenhaus wahrscheinlich überlebt hätten.
Einmal wurde eine 25-jährige Frau zu ihm gebracht – schwerverletzt durch einen Schusswechsel in der Nähe. Der einzige weitere Arzt, der noch im Dorf war, ein Chirurg, operierte sie notdürftig. Am Abend war ihr Zustand noch immer kritisch. Die ganze Nacht über behandelte el-Amal die junge Frau mit Injektionen und Schmerzmitteln. Am nächsten Morgen schwiegen die Waffen. Die Frau konnte in ein Krankenhaus gebracht werden. Sie hat überlebt.
Wenig später steht Dr. El-Amal in den Trümmern seines Malteser-Gesundheitszentrums im Nachbardorf Yarun. Die gesamte Rückwand ist weggesprengt, vorne klafft ein drei Meter großes Loch, die gesamte Ausrüstung ist zerstört – nur ein Behandlungsstuhl steht noch unversehrt inmitten der Trümmer. Die Hälfte des Gebäudes muss eingerissen werden, der Wiederaufbau wird viel Geld kosten. Ein mobiles Ärzteteam soll bis dahin die Kranken aus den Dörfern ringsum versorgen.
Debel, Maroun er-Ras, Aaita ech Chaab: Diese Dorfnamen werden für uns zu Begriffen der Zerstörung. Am schlimmsten sieht die umkämpfte Stadt Bent Jbail aus: Hier scheint sich der Staub aus den Ruinen seit der Waffenruhe noch nicht gelegt zu haben.
Montag, 21. August 2006:
Der kleine Hassan ist ein Kriegskind, und ohne die Malteser waere wohl auch seine Geburt eine ziemlich gefaehrliche Sache geworden: “Als ich an jenem Tag in das Fluechtlingslager gekommen bin, lag die Mutter schon in den Wehen, ringsherum alles chaotisch und dreckig, und keener, der helfen konnte”, erzaehlt Schwester Sylvie Toison, die mit ihren Teams fast 1.000 Fluechtlinge – fast nur Frauen und Kinder – in drei Schulen am Stadtrand von Beirut versorgt hat. Die Malteser untersuchten die Menschen, versorgten sie mit Medikamenten, installierten Duschen, wuschen Kinder und verteilten so wichtige Kleinigkeiten wie Seife und Mittel gegen die sich ausbreitenden Laeuse. “Die Haelfte der Fluechtlinge hatte chronische Krankheiten wie Diabetes und Bluthochdruck”, erzaehlt uns Schwester Sylvie, und dass manche Krankheit sich durch den Stress verschlimmert hat: “Wenn der Krieg noch laenger gedauert haette, dann haetten wir keine Medikamente mehr gehabt.” Doch an diesem Montag warten sechseinhalb Tonnen von den franzoesischen Maltesern gesammelte Medizin nur noch auf die Freigabe durch den Zoll – und Hassan ist mit seiner Mutter und den drei Geschwistern laengst heimgekehrt – in ein Dorf im Sueden des Libanon, in dem angeblich kein einziges Haus mehr steht.
Zwei Stunden spaeter sitzen wir im Rathaus des Beiruter Vororts Ghobeiry, als Gaeste eines Buergermeisters, der nach Auskunft unserer libanesischen Partner einer der wichtigsten Hisbollah-Fuehrer der Gegend ist. Die Hisbollah-Funktionaere reichen Tee und Suessigkeiten, beklagen die Auswirkungen des Krieges auf die Einwohner ihrer Stadt und melden Unterstuetzungswuensche an.
Der Direktor der libanesischen Malteser hoert sich alles geduldig an. Fuer ihn sind solche Besuche notwendig, wenn seine Leute weiter in Gebeiten mit schiitischer Bevoelkerung arbeiten wollen – und ausserdem gilt fuer ihn wie fuer alle humanitaeren Organisationen der Grundsatz der Neutralitaet: Entscheidend ist die Hilfe fuer die Beduerftigen – solange man nicht zum Werkzeug einer politischen Partei wird.
Waehrend der Buergermeister zur Beerdigung eines Hisbollah-Kaempfers faehrt, fahrt uns sein Bruder durch die Vororte zu den schlimmsten Verwuestungen. Ganze Strassenzuege liegen in Schutt und Asche. Als ich am Rand eines Truemmerfelds stehe, haelt neben mir ein Auto: “Das war meine Wohnung – im sechsten Stock”, sagt der Fahrer und zeigt auf ein Gelaender, das noch seinen ehemaligen Balkon erahnen laesst. “Alles, was ich da noch retten konnte, war ein Lampenschirm - alles andere ist zerstoert.” Auf den Truemmern hat die Hisbollah rote Plakate platziert. “Made in America”, steht darauf – und wieder der Slogan: “Der goettliche Sieg”.
Spaeter, beim Abendessen, sagt uns der Direktor der libanesischen Malteser: “Das, was wir heute gesehen haben, ist noch nicht im Vergleich zu dem, was wir morgen im Suedlibanon sehen warden.”
Samstag, 19. August 2006.
Der Krieg grüßt schon auf der Rollbahn. In der Trasse neben der Landebahn klafft ein meterbreites Loch, außen herum Absperrungen und Baustellenfahrzeuge. Aber der Flughafen von Beirut ist wieder offen, die Schäden werden repariert. Wir kommen mit einem der ersten regulären Linienflüge nach dem 33-tägigen Krieg mit Israel im Libanon an, auf einem Flughafen, dessen Hallen gespenstisch leer bleiben.
Auf der Ausfallstraße in die Stadt schon wieder der Krieg, diesmal heroisch idealisiert: Die Hisbollah hat weiträumig die Plakatwände bekleben lassen – Kämpfer in Heldenpose vor Raketenwerfern und mit Maschinengewehren, darüber wehen die Zedernflagge des Libanon und die gelbe Fahne der Schiitenmiliz, darunter – abwechselnd auf englisch, französich und arabisch: „Der göttliche Sieg“. Der Leiter des libanesischen Rates für Entwicklung und Wiederaufbau hat derweil bekannt gegeben, dass er absolut nicht wisse, wie der ganze Schutt wieder weggeräumt werden soll. Und dass durch den Krieg, in dem unter anderem 30.000 Wohnungen und Häuser beschädigt oder zerstört worden seien, ein Schaden von 3,6 Milliarden Dollar entstanden sei. Pro Einwohner macht das fast 1.000 Dollar.
Kurz nach der Ankunft treffen wir Paul Saghbini, den Direktor der libanesischen Malteser. Auch er ist erschüttert über die Opfer des Krieges, aber er lässt sich nicht anmerken, dass er seit fünf Wochen Krisenmanagement betreibt. Er ist verantwortlich für zehn Gesundheitszentren im ganzen Land, deren Mitarbeiter in den vergangenen Wochen Großartiges geleistet haben: Dr. Raed el-Alam etwa ist den ganzen Monat mit Tausenden Einwohnern und Flüchtlingen in dem südlibanesischen Dorf Rmeich ausgeharrt, an dem direkt der Grenzzaun zu Israel vorbeiläuft. In allen Dörfern ringsum lieferten sich Hisbollah-Kämpfer und israelische Soldaten heftige Gefechte, in Rmeich waren anfangs 8.000 christliche Einwohner und etwa 20.000 überwiegend schiitische Flüchtlinge eingeschlossen. „Unser Personal hat Anzeichen totaler Erschöpfung gezeigt“, sagt Saghbini, der jeden Tag mit den Eingeschlossenen telefoniert hat. Trotzdem bleibt Dr. el-Alam in Rmeich, als zwei Tage Feuerpause die Flucht ermöglichen. Am Ende des Krieges waren noch 6.500 Menschen in Rmeich, aber nur noch zwei Ärzte. Die Apotheke war geschlossen, Medikamententransporte kamen kaum durch.
Dann die Planung der kommenden Woche: Zusammen mit Saghbini werden wir die Lage in den Gesundheitszentren erkunden, die teilweise beschädigt sind oder aber mit einem Massenansturm an Flüchtlingen fertig werden mussten. In vielen Notunterkünften haben die Malteser die Menschen untersucht und Kranke behandelt, Medikamente und Lebensmittel geliefert und Duschen gebaut. Jetzt sind die allermeisten Flüchtlinge heimgekehrt, doch an den Gesundheitszentren am Rande der bombardierten Gebiete müssen mobile Kliniken aufgebaut werden, um in der Umgebung die Gesundheitsversorgung zu übernehmen. Am Montag geht es in die südlichen Vororte Beiruts, am Dienstag in den Südlibanon, später auch in die Bekaa-Ebene.
Zum Abendessen ein Abstecher in die Stadtmitte von Beirut. Ganze Viertel sind dunkel, der Strom muss nach der Bombardierung eines Kraftwerks rationiert werden. Auf dem Parlamentsplatz hat man Bilder verletzter Kinder ausgestellt – ein Kleinkind mit Windel und Schnuller ist an beiden Armen und am Oberkörper verbunden: „19. Juli, Dorf Srifa im Südlibanon“ steht darunter. Das Restaurant, in dem wir bleiben, hat erst gestern wieder aufgemacht. Die Straße ist fast leer, nur vereinzelt sitzen Menschen. „Normalerweise kann man sich hier nicht mal unterhalten, so geht es hier sonst zu“, sagt uns Paul Saghbi
+++ Spendenaufruf +++
Aktion Deutschland Hilft, Bündnis der Hilfsorganisationen,
bittet dringend um Spenden für die Nothilfe weltweit
Stichwort: Nothilfe weltweit
IBAN DE62 3702 0500 0000 1020 30, BIC: BFSWDE33XXX
Jetzt online spenden!